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B-Lokomotive
3. Geschichtliche Entwicklung der Dampflokomotiven
3.2. Die Entwicklung der Naßdampflokomotive 1829 - 1908
A-Lokomotiven
Die Lokomotive der ersten deutschen Eisenbahn, die die Städte Nürnberg und Fürth verband und am 7. Dezember 1835 eröffnet wurde, mußte noch aus England bezogen werden. Der ”Adler” (Bild 4), von Stephenson und Co. in Newcastle als 118. Lokomotive gebaut, läßt gegenüber der ”Rocket” bereits deutliche Fortschritte erkennen. Die beiden Zylinder liegen waagerecht zwischen den Rahmenwangen, was sich jahrzehntelang als englische Normalform erhalten hat. Stehkessel und Feuerbüchse sind größer ausgebildet. An den Langkessel schließt sich eine Rauchkammer an. Die Lokomotive hat vorn und hinten eine fest im Rahmen gelagerte Laufachse. Die Räder der Treibachse (Durchmesser 1372 mm) sind ohne Spurkranz. Der Kesseldruck beträgt 3,3 kg/cm
2 bei einer Kesselheizfläche von 18,2 m
2.
100 Jahre nach ihrer ersten Fahrt auf einer deutschen Eisenbahnstrecke zog wiederum eine ”Adler”-Lokomotive den Jubiläumszug über die Strecke und stand wohl auch gelegentlich dicht neben ihren großen Schwestern, den neuzeitlichen Schnellzug- und Güterzuglokomotiven. Dabei mußte die Entwicklung des Lokomotivbaues jedem Beschauer recht deutlich werden. Die Lokomotivleistung ist heute auf das 50 - 60fache gewachsen, die Geschwindigkeit auf das Fünf- bis Sechsfache erhöht, das Gewicht von 7,5 t auf über 200 t gestiegen.
Aber bei den Fahrgästen des Jahres 1836 hat der ”Adler” sicher wesentlich mehr Staunen und Bewunderung erregt als der Fortschritt im Lokomotivbau bei den Teilnehmern am Jubiläum der 100jährigen Eisenbahn. Der Sprung von der langsamen Postkutsche in den mit 40 km/h ”dahinrasenden” Eisenbahnzug war für die Vorstellung der Menschen von damals riesengroß, und es gab nicht wenige, die bei solchen Geschwindigkeiten ernstlich um die Gesundheit der Fahrgäste bangten. Mit dem Einsatz der Dampflokomotive begann in Handel und Verkehr ein neues Zeitalter. Länder und Städte, die vorher nur in mühseliger, zeitraubender Reise zu erreichen waren, rückten in wenigen Jahren dichter zusammen, abseits der großen Landstraße liegende Gebiete wurden dem Verkehr erschlossen und die eisenschaffende Industrie erhielt ihre ersten starken Impulse. Schließlich nahm der sich rasch ausbreitende Schienenverkehr Einfluß auf fast alle Gebiete des Wirtschaftslebens.
Bild 4 Adler
Für den, der sich eingehender mit der Geschichte der Lokomotive befaßt, sind zwei Tatsachen erstaunlich, daß schon der ”Adler” fast alle grundsätzlichen Merkmale der Lokomotive von heute trug, und daß die unermüdliche, sorgfältige Ingenieurarbeit aus den bescheidenen Anfängen, ohne Änderung des Grundsätzlichen, die leistungsstarken und betriebssicheren neuzeitlichen Dampflokomotiven schuf.
Dabei sind dem Lokomotivbauer ständig zwei sehr harte Fesseln angelegt, die Spurweite und das Fahrzeugprofil (Bild 5), das den Ausbau der Lokomotive in Höhe und Breite genau begrenzt. Den steigenden Leistungsanforderungen konnte die Lokomotive daher fast nur durch Anwachsen in der Länge gerecht werden. Allerdings bereitete die Längenentwicklung sehr viel Kopfzerbrechen, da man ja die Leistungsverbesserung und die günstigere Wärmeausnutzung nicht mit schlechterer Kurvenläufigkeit erkaufen wollte.
Bild 5 Begrenzung I für Fahrzeuge im Stillstand bei Mittelstellung im geraden Gleis, linke Hälfte für Lok, Tender und Triebwagen, rechte Hälfte für Wagen
Die leichten Züge der ersten Eisenbahnzeit ließen sich noch ohne weiteres vom ”Adler” befördern. Damals kannte man noch keinen Unterschied zwischen Güterzug- und Reisezuglokomotiven. Je mehr Last man aber der Lokomotive zumutete; desto größer mußte der Kessel werden und mit desto mehr ”Beinen” mußte sie sich auf ihren Laufweg, die Schienen, stützen. Eine Treibachse reichte bald nicht mehr aus, man mußte zwei, drei und mehr einbauen, um den schweren Zug von der Stelle zu bewegen, ohne daß die Treibräder ins Gleiten kamen. Die Vorräte an Kohle und Wasser wuchsen mit der Ausdehnung des Streckennetzes.
Neben dem äußerlich sichtbaren Fortschritt ging das Verbessern der Lokomotive in ihrer Wirtschaftlichkeit und ihren Laufeigenschaften einher. Viele Kinderkrankheiten galt es in den ersten Jahren zu beseitigen. Der kurze Kessel des ”Adler” nutzte die Wärme schlecht aus, die richtige Abstimmung zwischen Größe der Feuerbüchse, des Kessels und seiner Rohre mußte man noch lernen. An der Verbesserung der Saugwirkung des Blasrohrs im Zusammenhang mit Schornstein und Rauchkammer wurde bis ins zweite Eisenbahnjahrhundert hinein gearbeitet. Die Anwendung des Verbundverfahrens und schließlich die Einführung des Überhitzers und damit des Heißdampfes bedeuteten um die Jahrhundertwende einen bedeutsamen Schritt vorwärts. Der ”Adler” arbeitete noch ohne Dampfdehnung, nützte also die im Frischdampf enthaltene Energie sehr unvollkommen aus, aber schon wenige Jahre später lernte man den Nutzen der Dampfdehnung kennen und erfand dafür geeignete Steuerungen. Dampf- und Kohlenverbrauch sanken dadurch natürlich ganz beträchtlich. Doch von dieser einfachen Steuerung bis zur heute gebräuchlichen Rundschiebersteuerung war noch ein langer Weg. Die Aufbereitung des Speisewassers, Verbesserung der Pumpenanlagen, Einführung der Vorwärmung sind weitere Erfolge im Bemühen um die Wirtschaftlichkeit der Dampflokomotive.
Die Laufsicherheit der ersten Lokomotive in der Geraden und in den Krümmungen ließ noch viel zu wünschen übrig. Verschiedene Mittel wurden erprobt, um die Laufruhe zu verbessern. Dazu gehören: die vorn und hinten eingesetzte Laufachse, das Drehgestell, Radsätze ohne Spurkranz und seitenverschiebbare Achsen.
Eine Unmenge von Forschungsarbeit mußte geleistet werden, bis man betriebsreife und wirtschaftliche Dampftriebfahrzeuge bauen konnte. Heute noch werden immer wieder neue Verbesserungsmöglichkeiten gefunden.
Da die Aufgaben des Schnellzug- und Güterzugdienstes bald auseinandergingen - in einem Betriebszweig handelt es sich um rasche Beförderung geringer Lasten, im anderen um langsame Beförderung schwerer Lasten -, wurden für die verschiedenen Aufgaben zweckentsprechende Lokomotiven geschaffen. Der Schnellzugdienst verlangt Maschinen mit großen, ”weitausgreifenden Beinen”, der Güterzugdienst solche mit ”kurzen festen Beinen”.
Diese in ganz großen Zügen angedeutete Entwicklungsarbeit können wir nun an einigen hervortretenden Bauarten im einzelnen verfolgen.
Im ersten Jahrzehnt der Eisenbahn werden vielfach Lokomotiven ähnlich dem ”Adler” verwendet. überall in Deutschland entstanden zunächst kürzere Eisenbahnstrecken, z.B. zwischen Nürnberg - Fürth, Leipzig - Dresden, Berlin - Potsdam, Düsseldorf - Elberfeld, Magdeburg - Leipzig, Magdeburg - Halberstadt, Bonn - Köln, München - Augsburg, Breslau - Freiburg, Altona - Kiel und Köln - Minden. Später wuchsen diese Strecken zu einem über ganz Deutschland reichenden, weitverzweigten Eisenbahnnetz zusammen.
Da die angehängten Zuglasten anfangs nicht sehr hoch waren, kam man insbesondere im Personenzug- und Schnellzugverkehr über sehr lange Zeit mit einer angetriebenen Achse aus und entwickelte diese Bauart in mannigfacher Hinsicht bis zum Jahre 1870 weiter. Die größte Leistung der 1 A 1-Lokomotive betrug 376 PSi bei einer Geschwindigkeit von 72 km/h (1869). Als man zur Verbesserung der Wärmewirtschaft in die 1 A 1-Lokomotiven längere Kessel einbaute, jedoch den kurzen Achsstand zunächst noch beibehielt, wurde der Lauf dieser Lokomotiven besonders bei hohen Geschwindigkeiten recht unruhig.
Als Lokomotive für krümmungsreiche Strecken wurde in Amerika von der Lokomotivfabrik William Norris in Philadelphia eine 2’ A-Lokomotive entwickelt, deren vordere 2 Laufachsen zu einem Drehgestell zusammengefaßt waren. Allerdings standen die Laufachsen so dicht zusammen, daß das Drehgestell der Lokomotive bei hohen Geschwindigkeiten keine sichere Führung im Gleis bot. Die ”Norris”-Lokomotiven wiesen noch einige andere neue Baugrundsätze auf, die der Verbesserung der Lokomotive dienten. Das Triebwerk war nach außen gelegt worden und damit die leicht schadanfällige Kropfachse beseitigt. Außerdem brachte die Achsanordnung 2’ A eine hohe Belastung der in der Nähe der Schwerpunktebene liegenden Treibachse, wodurch die Lokomotive höhere Zugkräfte entwickeln konnte. Die ”Norris”-Lokomotiven waren an der Rundkuppel über der Feuerbüchse und dem darüber angebrachten Dampfdom leicht zu erkennen. In Anlehnung an diese Bauart entstand die erste Lokomotive der Fabrik Borsig-Berlin im Jahre 1841 (Bild 6). Bei dieser Maschine ist zu der 2’ A Achsanordnung hinter der Feuerbüchse noch eine Laufachse hinzugefügt. Dadurch beseitigte man einen großen Mangel der Lokomotiven mit langem Kessel und kurzem Radstand, nämlich den großen Überhang der Feuerbüchse hinter der letzten Achse, und verbesserte auf diese Weise die Laufruhe bei hohen Geschwindigkeiten. Die ”Borsig”-Lokomotive ist in ihrer ursprünglichen Form nur in geringer Stückzahl gebaut worden.
Bild 6 Erste Lokomotive von Borsig
Bald verließ man das zweiachsige Drehgestell wieder, weil das Gesamtgewicht für vier Achsen noch zu gering war, und kehrte zur Bauart 1 A 1 zurück, wobei allerdings nun die letzte Laufachse hinter der Feuerbüchse lief. Diese Bauform wurde insbesondere auf den wenig krümmungsreichen Strecken Norddeutschlands für den Personen- und Schnellzugverkehr lange Zeit hindurch beibehalten, weil sie den Anforderungen sowohl an die Laufsicherheit wie auch an die Zugkraft durchaus gerecht wurde. Mit dem Bau neuer Bahnen entstanden kurz nacheinander eine größere Zahl von Lokomotivfabriken, so z.B. E. Keßler in Karlsruhe und Eßlingen, A. Borsig in Berlin, J. A. Maffei in Hirschau-München, G. Egestorff in Hannover, Henschel & Sohn in Kassel, L. Schwartzkopff in Berlin und R. Hartmann in Chemnitz.
Als Wettbewerbsmaschine für hohe Geschwindigkeiten entstand die nach ihrem Erbauer benannte ”Crampton”-Lokomotive (Achsanordnung 2 A). Ihr kennzeichnendes Merkmal ist die hinter der Feuerbüchse liegende Treibachse mit großem Raddurchmesser. Während der ”Adler” nur einen Treibraddurchmesser von 1372 mm aufwies, besaß die ”Crampton”-Lokomotive einen Treibraddurchmesser von 2134 mm, also mehr als die meisten unserer neuen Schnellzuglokomotiven. Diese Lokomotive erreichte schon im Jahre 1853, also kaum 20 Jahre nach dem Bau der ersten Eisenbahn in Deutschland, ohne Last eine Geschwindigkeit von 120 km/h, mit 50 t Anhängelast 80 km/h. Bild 7 zeigt eine von Maffei-München im Jahre 1853 gebaute ”Crampton”-Lokomotive für die Pfalzbahn (Heizfläche des Kessels 68,6 m
2).
Bild 7 Crampton-Lokomotive
Kennzeichnend für die ”Crampton”-Lokomotive ist die nach einem Halbzylinder gewölbte Stehkesseldecke, die bei der Mehrzahl der Lokomotiven heute noch zu finden ist. Da die ”Crampton”-Lokomotive außerdem noch den Dampfdom auf der Stehkesseldecke trug, ruhte ein sehr großer Teil des Lokomotivgewichts auf der Treibachse, die dementsprechend große Zugkräfte übertragen konnte. Von 1855 ab wurde die ”Crampton”-Lokomotive wegen ihres ruhigen Laufs im Schnellzugdienst verwendet, von 1860 ab reichte aber das Reibungsgewicht der einen Treibachse im allgemeinen nicht mehr aus, so daß man nun für den Schnell- und Personenzugverkehr zur mehrfach gekuppelten Lokomotive übergehen mußte.
B-Lokomotiven
Für den Zugdienst auf hügeligen Strecken, wie in Thüringen und Sachsen, wurden neben den Lokomotiven mit einer Treibachse schon frühzeitig zweifach gekuppelte Lokomotiven gebaut, da man dort mit der Reibungskraft einer Achse von vornherein nicht auskam.
Bild 8 Saxonia
Als eine solche B 1-Lokomotive entstand im Jahre 1838 die erste brauchbare, in Deutschland gebaute Lokomotive ”Saxonia” (Bild 8). Sie wurde von der sächsischen Maschinenbau-Co. in Übigau (Prof. Schubert) hergestellt und verkehrte auf der Strecke Leipzig - Dresden. (Treibraddurchmesser 1524 mm, Kesseldruck 4,22 kg/cm
2, Heizfläche 24,2 m
2.) Der Kessel hatte nach amerikanischem Vorbild hinten eine runde Feuerbüchse mit hohem Dampfraum. Damals glaubte man, den Schwerpunkt der Lokomotive und dementsprechend auch den Kessel möglichst tief legen zu müssen. Das zu jener Zeit noch ausschließlich verwendete Innentriebwerk mußte infolgedessen sehr weit unten eingebaut werden, damit die Treibstange unterhalb der vorderen Kuppelachse vorbeikam. Die hinter der Feuerbüchse angeordnete Laufachse sollte den großen Überhang beseitigen und die Laufeigenschaften verbessern. Bald stellte sich als Nachteil der B- und B 1-Lokomotiven heraus, daß sich die Radreifen der vorderen Kuppelachse im Streckendienst weit schneller abnutzten als die der zweiten Achse. Beim Wiederherstellen des Radreifenprofils mußte dann jedesmal auch von der Treibachse unnötig viel wertvoller Werkstoff abgedreht werden. Um dies zu vermeiden, setzte man die Laufachse als vordere Achse ein, da ihr Radreifendurchmesser von dem der Kuppelachse unabhängig war. In dieser Form der 1 B-Achsanordnung sind von 1845 bis 1870 sehr viele Lokomotiven gebaut worden, die damals für alle Zwecke zu verwenden waren.
In den Jahren 1855 bis 1860 wurde die bis dahin fast ausschließlich gebräuchliche Feuerung der Lokomotiven mit Koks durch die Steinkohlenfeuerung abgelöst. Gleichzeitig versuchte man, die Kesselleistung durch Vergrößerung der Rostfläche zu erhöhen, indem man den Rost schräg legte und über die hintere Achse hinaus verlängerte. Im Jahre 1870 waren auch schon der Kipprost und die Kesselsteinabscheidung im Speisedom in ihren ersten Bauformen bekannt.
Die zweifach gekuppelte Lokomotive findet sich vom Jahre 1846 ab auch als 2' B mit vorn laufendem, zweiachsigem Drehgestell. Solange das Drehgestell allerdings einen kurzen Achsstand hatte, liefen diese Maschinen unruhig. Erst nach Einführung des langen Drehgestells (in Deutschland erst ab 1892) konnten 2' B-Lokomotiven mit guten Laufeigenschaften gebaut werden.
C-Lokomotiven
Auf schon verhältnismäßig hoher Entwicklungsstufe entstanden etwa 10 Jahre nach dem Bau der ersten Eisenbahnen in Deutschland die dreifach gekuppelten Lokomotiven, zuerst wieder vorwiegend für Gebirgsstrecken und den Güterzugverkehr. Später wanderten sie mit den ansteigenden Zuggewichten auch immer weiter in das Flachland hinein. Die erste in Deutschland gebaute C-Lokomotive zeigt Bild 9. Sie wurde von der Firma Keßler in Karlsruhe für die Badische Staatsbahn gebaut und hatte bei einem Dampfdruck von 7 kg/cm
2 eine Leistung von 225 PSi. Damals besaßen die Badischen Bahnen noch die Breitspur von 1,6 m, später wurden diese Lokomotiven auf Normalspur umgebaut. In größerer Stückzahl finden wir die C-Lokomotiven in Deutschland erst vom Jahre 1865 ab. Eine von Schwartzkopff-Berlin im Jahre 1867 gebaute dreiachsige Lokomotive zeigt Bild 10. Bei dieser Maschine wurde der Rahmen nach außen gelegt, eine Bauart, die den Vorteil hat, daß man die Feuerbüchse breiter bauen kann als bei innen liegendem Rahmen, und die vor allem in Österreich und Ungarn damals stark verbreitet war. Der Nachteil des Außenrahmens ist die schwierige Zugänglichkeit des Innentriebwerks. Die C-Lokomotive blieb in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die am meisten verbreitete und wirtschaftlichste Güterzuglokomotive. Das Bedürfnis für eine vierfach gekuppelte Maschine lag damals nur bei ausgesprochenen Gebirgsbahnen vor. Außerdem brachten die größere Länge und das höhere Gewicht dieser Bauart zunächst Schwierigkeiten beim Befahren von Krümmungsstrecken.
Bild 9 C-Güterzuglokomotive
Bild 10 C-Lokomotive mit Außenrahmen
D-Lokomotiven
Nach 1890 erforderten dann die längeren und schwereren Güterzüge allgemein die vierfache Kupplung der Achsen. Der Bau dieser Maschinen fiel in die Zeit, die dem Lokomotivbau durch Einführung des Verbundverfahrens bei der Dampfmaschine einen erheblichen wärmewirtschaftlichen und leistungsmäßigen Fortschritt brachte. Die Zweckmäßigkeit des Verbundverfahrens im Güterzugdienst war auch damals umstritten. Beim häufigen Anfahren im Güterzugverkehr und vor allem im ausgesprochenen Rangierdienst brachte das Verbundverfahren manche betrieblichen Nachteile.
Bild 11 D-Güterzuglokomotive G72
Die vierfach gekuppelte Maschine wurde daher zunächst in mehreren verschiedenen Ausführungen gebaut, als D n2-Lokomotive mit einfacher Dampfdehnung (G 7
1), als D n2v-Lokomotive mit doppelter Dampfdehnung (G 7
2) und als 1 B n2v-Lokomotive mit doppelter Dampfdehnung und vorderer Laufachse (G 7
3). In großer Zahl wurden dann später sowohl die G 7
1 wie auch die G 7
2 weitergebaut, wobei allerdings die G 7
2 erheblich stärker vertreten war. Sie hatte einen Treibraddurchmesser von 1250 mm, eine Kesselheizfläche von 136,6 m
2 und einen Kesseldruck. von 12 kg/cm
2 (Bild 11). Diese Lokomotive ist infolge ihrer betrieblichen Bewährung annähernd 20 Jahre lang, selbst bis weit in die Anfangszeit der Heißdampflokomotiven hinein gebaut worden. Im Wettbewerb zur Heißdampflokomotive, die damals gerade im Anfang ihrer Entwicklung stand und im Betrieb noch nicht immer voll befriedigte, wurde als letzte preußische Naßdampf-Güterzuglokomotive für den Streckendienst in den Jahren 1908 bis 1913 die G 9 in kleinerer Stückzahl in Betrieb genommen. Sie wurde später (1923) zu einer Heißdampflokomotive umgebaut.
Als stärkste Naßdampflokomotive kann man die 1’E-Lokomotive der ehemaligen Reichseisenbahn Elsaß-Lothringen ansehen, die als Verbundlokomotive im Jahre 1904 entstand.
Verbundverfahren
Das Bestreben, die Wirtschaftlichkeit zu verbessern, führte Ende der siebziger Jahre in Verbindung mit höherem Kesseldruck dazu, den Dampf nicht mehr in einem Zylinder zu entspannen, sondern seine Arbeitsfähigkeit nacheinander in einem Hochdruck- und einem Niederdruckzylinder auszunutzen. Diese sog. Verbundwirkung gründete sich auf Versuche des Münchener Professors Bauschinger. Er hatte im Jahre 1865 entdeckt, daß die größten Wärmeverluste im Dampfzylinder durch die Eintrittskondensation entstehen, also durch Abkühlen und teilweisen Niederschlag des Sattdampfes an den kälteren Zylinderwandungen. Die Verluste sind um so größer, je höher das Druck- und Temperaturgefälle in der Dampfmaschine ist. Die Ergebnisse dieser Versuche brachten dann den Schweizer Ingenieur Mallet auf den Gedanken, das Druckgefälle durch stufenweise Expansion in mehreren Zylindern zu unterteilen, um auf diese Weise die einzelnen Zylindertemperaturen gleichmäßiger zu halten und so die Kondensationsverluste zu verringern.
Da die Verbundwirkung anfangs nur an 2-Zylinder-Lokomotiven erprobt wurde, ergaben sich für das Anfahren bald Schwierigkeiten. Wenn der Hochdruckkolben nämlich im Totpunkt oder in der Nähe des Totpunktes steht, gelangt überhaupt kein oder wenigstens nicht genügend Dampf in den Zylinder. Zur Abhilfe erfand man verschiedenartige Anfahrvorrichtungen, zuerst von Hand zu bedienende Wechselschieber, durch die während des Anfahrens auch dem Niederdruckzylinder Frischdampf zugeführt werden konnte. Trotzdem hinderte die Anfahrschwerfälligkeit lange Jahre hindurch die Verbreitung des Verbundverfahrens. Erst vom Jahre 1885 an fand es endgültig Eingang in Deutschland.
Die Entwicklung der Verbundlokomotive bei der preußischen Staatsbahn ist unlösbar mit dem Namen August von Borries verbunden. Die von ihm gebauten Lokomotiven, bei denen durch ein automatisches Anfahrventil die Verbundwirkung außer beim Anfahren stets zwangsläufig aufrechterhalten wurde, wiesen gegenüber gleich großen Zwillingslokomotiven Brennstoffersparnisse von 15 - 16 % auf. Wird das Verbundprinzip bei 2-Zylinder-Lokomotiven angewendet, dann muß der Niederdruckzylinder größer als der Hochdruckzylinder ausgeführt werden, damit auf beiden Lokomotivseiten die gleiche Leistung zur Verfügung steht. Diese Bauart führt zu ungleichen Triebwerksmassen und unruhigem Lauf. Für schnellfahrende Lokomotiven entwickelte man daher zuerst in Frankreich und danach auch in Deutschland 4-Zylinder-Verbundlokomotiven. Größere Leistungen konnte man in der 2-Zylinder-Verbundlokomotive ohnehin nicht mehr unterbringen.
Bild 12 2' B 1' n4v-Schnellzuglokomotive (S 9)
Der Schnell- und Personenzugdienst wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast nur von zweifach gekuppelten Lokomotiven bedient, entweder in der für Personenzuglokomotiven sehr häufig angewendeten Achsanordnung 1 B oder der für Schnellzuglokomotiven verwendeten Bauart 2’ B mit zwei Zylindern und einfacher oder doppelter Dampfdehnung. Die ständig steigenden Forderungen an die Lokomotivleistung und Laufsicherheit führten zu einer stetigen Verstärkung der Schnellzuglokomotiven. Wie scharf dabei der Wettbewerb unter den einzelnen Bauarten war, geht daraus hervor, daß noch in den Jahren 1907 bis 1910, also zu einer Zeit, als die Überlegenheit des Heißdampfbetriebes klar erkannt wurde, noch eine 2’ B 1’ n4v-Lokomotive (S 9) gebaut wurde, die bei der preußischen Staatsbahn den Abschluß der Entwicklung der Naßdampf-Schnellzuglokomotiven darstellt, Diese Maschine hatte eine Verdampfungsheizfläche von 229,71 m
2 bei einem Kesseldruck von 14 kg/cm
2, der Treibraddurchmesser betrug 1980 mm, der Kuppelachsdruck war bis auf 16,5 t angestiegen (Bild 12). Die 4-Zylinder-Lokomotiven hatten den Vorzug, durch Gegenläufigkeit der beiden rechten und linken Triebwerke den Lauf von störenden Schwingungen freizuhalten. Schon mit der ähnlich gebauten Vorgängerin der S 9, der S 7-Lokomotive waren Geschwindigkeiten bis zu 143 km/h gefahren worden. Lauftechnisch waren diese Lokomotiven den Forderungen des Schnellverkehrs damals schon durchaus gewachsen. Je schwerer aber die Züge wurden, desto mehr bereitete das Anfahren mit nur zwei gekuppelten Achsen Schwierigkeiten, so daß in den Jahren nach 1910 die Zeit für den Übergang zur dreifach gekuppelten Schnellzuglokomotive gekommen war. Dieser Schritt wurde gleichzeitig mit dem Übergang zum Heißdampfbetrieb getan.