3. Geschichtliche Entwicklung der Dampflokomotiven
3.5. Die Einheitslokomotiven 1950
Der zweite Weltkrieg war für die Eisenbahn ein harter, aber erfolgreicher Lehrmeister. Die Materialknappheit zwang zu sparsamerer Bauweise, zur bestmöglichen Baustoffausnutzung und zu größter Leistungsausbeute. Gleichzeitig mußten die Bauteile vereinfacht und der Massenherstellung angepaßt werden. Die Baureihen 42 und 52 wurden kennzeichnende Vertreter dieser Zwangsmaßnahmen. Besonders wirksam hat der Fortschritt der Schweißtechnik den Bau dieser Kriegslokomotiven und auch den Lokomotivbau der Nachkriegszeit entscheidend beeinflußt. Der durchweg geschweißte Kessel und der geschweißte Rahmen zeigen diese Wandlung der Baugrundsätze sehr sinnfällig.
Das Schweißen vereinfacht den Bau und die Ausbesserung und gestattet gleichzeitig, den Kessel in der Feuerbüchse so zu gestalten, daß man ihm eine erheblich höhere Leistung zumuten kann, als man früher für möglich hielt. Lange Jahre hindurch rechnete man mit einer Heizflächenbelastung von 57 kg/m
2h Dampfentwicklung als Kesselvollast, weil die Feuerbüchsrohrwand mit eingewalzten Rohren, die Bodenringbauart und der damit zusammenhängende, verhältnismäßig enge Wasserraum zwischen Stehkessel und Feuerbüchswand bei höherer Belastung bald zu Undichtigkeiten in der Feuerbüchse führten. Durch die Kesselschweißung wurde der Einbau einer Verbrennungskammer möglich, die einmal die wirksame Strahlungsheizfläche vergrößerte und außerdem die empfindliche Feuerbüchsrohrwand der direkten Feuereinwirkung mehr entzog.
Baugrundsätze der Einheitslokomotiven 1950
Für den Lokomotivneubau nach dem Kriege wurden folgende Baugrundsätze neu aufgestellt:
a) Kessel
- Hohe Verdampfungsleistung von dauernd 70 kg/m2h, für Spitzenleistungen bis zu 85 kg/m2h (s. Seite 272, 285).
- Vergrößerung der wirksamen Strahlungsheizfläche (s. Seite 70, 287).
- Sparsame Bemessung der Rostfläche, um die Verluste im Stillstand einzuschränken (s. Seite 312).
- Kesseldruck von mindestens 16 kg/cm2 und Überhitzung von mindestens 400° C für Dauerleistung (s. Seite 271).
- Breiter, über dem Rahmen liegender Stehkessel (s. Seite 287).
- Kräftige Blasrohrwirkung und dadurch geringere Empfindlichkeit gegen Bedienungsfehler und schwankende Kohlengüte (s. Seite 305, 396).
- Reichliche Luftzuführung am Bodenring (s. Seite 319).
- Hochwertige Vollisolierung durch Asbestmatratzen (s. Seite 327).
- Breiter Stehkesselwasserraum und Verbrennungskammer (s. Seite 287).
- Gewindelos mit Spiel eingeschweißte Seiten- und Deckenstehbolzen (s. Seite 294).
- Einbau von Kreuzgelenkstehbolzen (s. Seite 293).
- Mit Spiel eingeschweißte Heiz- und Rauchrohre bei gleicher Stärke von Rohrwand und übrigen Feuerbüchswänden (s. Seite 296).
- Fortfall des Speisedoms (s. Seite 303).
- Trennen des Steuerbocks vom Kessel und Lagern des Aschkastens im Rahmen (s. Seite 222, 321).
- Übergang vom Naßdampf- zum Heißdampfregler (s. Seite 401).
- Betrieb der Hilfsmaschinen mit Heißdampf (s. Seite 401).
- Speisewasservorwärmung im Mischvorwärmer (s. Seite 414).
- Verwendung nichtsaugender Strahlpumpen außerhalb des Führerraums (s. Seite 341).
b) Rahmen, Lauf- und Triebwerk
- Allseitig geschweißter Blechrahmen (s. Seite 450).
- Rollenlager in Achsen und Stangen (vorerst noch im Versuch s. Seite 254, 465).
- Spurkränze mit Heumann-Lotter-Profil.
- Stahlgußzylinder mit Gußeisen-Laufbuchsen.
- Verlegen der Steuerspindel über die Umsteuerwelle, Antrieb über Kette und Handrad vom Instrumentenpult aus (s. Seite 222).
- Druckausgleich-Kolbenschieber ohne Federn mit Luftsaugeventilen (s. Seite 246).
- Hochwertige Isolierung der Rohre und Zylinder durch Asbestmatratzen (s. Seite 327).
- Geschweißte Lenk- und Laufgestelle.
- Laufwerk für hohe Rückwärtsgeschwindigkeit.
c) Sonstige Ausrüstung
- Allseitig geschlossener Führerraum für hohe Rückwärtsgeschwindigkeit (s. Seite 580).
- Zusammenfassen der Anzeigegeräte in einem Pult (s. Seite 222).
- Seitenzugregler zur Bedienung bei Stand am Fenster (s. Seite 401).
- Zentralschmierung schwer zugänglicher Stellen des Laufwerks, der Steuerung und anderer Teile (s. Seite 525).
- Weit nach außen gerückte, fest angebaute Laternen zum Anstrahlen von Baken und Rückstrahlern (s. Seite 512).
- Kleine Windleitbleche (s. Seite 561).
- Bequeme Sitzgelegenheit für das Personal.
d) Tender
- Selbsttragender Behälter für Kohle und Wasser (s. Seite 568).
- Vollständige Schweißung des Tenders (s. Seite 568).
Diese Baugrundsätze werden bei den neu entwickelten ”Einheitslokomotiven 1950” (Merkbuch für Fahrzeuge, DV 939a) sowie für spätere Neubauten angewendet.
Planung der Neubaulokomotiven
Neben dem deutlich sichtbaren Streben nach Wirtschaftlichkeit im Lokomotivbau und -betrieb mußte aber ebenso zielbewußt die weitere Einschränkung der Lokomotivgattungen einhergehen. Es ist schon ein bedeutender Fortschritt, die Zahl der Bauarten von 210 nach dem ersten Weltkrieg auf jetzt 76 herabgesetzt zu haben. Der Strukturwandel auf dem Gebiet der Eisenbahn-Triebfahrzeuge zwingt dazu, mit Planungen für die kommenden Jahrzehnte sehr vorsichtig zu sein, damit nur Lokomotivgattungen geschaffen oder weiter erhalten werden, denen für spätere Zeiten ein genügend großes Betätigungsfeld bleibt. Der ständige Wandel des Verkehrsaufkommens und gleichzeitig das Fortschreiten der Technik gestatten natürlich nur einen großen Rahmen für die zukünftige Planung, aber ein Grundprogramm muß doch vorhanden sein.
Als Ersatz für aussterbende Gattungen hat man folgende Bauartreihen vorgesehen:
Baureihe |
Bezeichnung |
Höchst- geschwin- digkeit |
Achs- druck |
10 |
2' C1’ h3 Ersetzt die Schnellzuglokomotive Reihe 01, 03, 185 und 390 |
140 |
22 |
66 |
1’ C 2’ h2 Ersetzt die Personenzug-Tender- lokomotive Reihe 64, 74, 75 |
90 |
15 |
65 |
1’ D 2’ h2 Ersetzt die Personenzug-Tender- lokomotive Reihe. 78, 93 |
90 |
17 |
82 |
E h2 Ersetzt die Güterzug-Tender- lokomotive Reihe 84, 85, 87, 94, 95, 92 |
70 |
18 |
Diesem Plan entsprechend wurden bisher die Lokomotiven der Reihen 10, 65 und 82 gebaut und in Betrieb genommen. Die Baureihe 10 löst die älteren Schnellzuglokomotiven 01, 03 und 18
5 ab (Bild 27). Die Reihe 23 entstand erstmals im Jahre 1940 noch nach den früheren Baugrundsätzen und wurde dann nach den neuen Richtlinien im Jahre 1950 weiterentwickelt (Bild 28).
Bild 27 2' C 1' h3-Schnellzuglokomotive Reihe 10
Bild 28 1' C 1' h2-Personenzuglokomotive Reihe 23
Sie übernimmt im wesentlichen die Aufgaben der alten P 8-Lokomotive (Reihe 38). Ihre Höchstgeschwindigkeit ist auf 110 km/h festgelegt worden, so daß sie auch im Schnellzugdienst eingesetzt werden kann. Rückwärts ist sie mit Rücksicht auf die Sichtverhältnisse vom Führerraum aus nur mit 85 km/h zu fahren, obwohl das Laufwerk eine Rückwärtsgeschwindigkeit bis zu 110 km/h zuließe; mit 85 km/h kann sie aber im Vorort- und Nahschnellverkehr ohne Schwierigkeiten die Aufgaben der alten Baureihe 78 übernehmen. Die Leistung der Reihe 23 ist mit 1800 PSi im Zylinder erheblich höher als die der Reihe 38
10-40 mit 1120 PSi, obwohl die Heizflächen sich nur um 8,5 % unterscheiden und das Betriebsgewicht nur um 4,5 t, d.s. 5,9 %, höher ist.
Darin kommt die Bewährung der neuen Baugrundsätze, besonders die Betonung der Strahlungsheizfläche, deutlich zum Ausdruck. Der Kesselwirkungsgrad beträgt im Höchstwert 81,2 %, der günstigste Gesamtwirkungsgrad erreicht 9,5 % bei 44 km/h. Infolge dieser günstigen Eigenschaften wird diese Lokomotive im Einsatz noch beweglicher und vielseitiger, als es die Reihe 38
10-40 schon war.
Bild 29 E h2-Güterzug-Tenderlokomotive Reihe 82
Bild 30 1' C 1' h2-Personenzug-Tenderlokomotive Reihe 65
Die Reihe 82 (Bild 29) hat als Rangierlokomotive keine Verbrennungskammer im Kessel erhalten. Ihre Kurvenläufigkeit in den Weichen und Krümmungen wird durch das bei den Einheitslokomotiven bisher nicht gebräuchliche Beugniot-Lenkgestell gesichert. Mit einer Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h ist sie aber nicht zu stark an ihr eigentliches Arbeitsgebiet im Rangierbahnhof gebunden, sondern kann auch zur Beförderung von Übergabezügen auf kleinere Entfernungen eingesetzt werden.
Die Reihe 65 (Bild 30) kann ebenfalls für eine ganze Reihe von Betriebsaufgaben verwendet werden.